NeSCHUH’ah – Alles nur ein Spiel?

Da sind sie nun auf der Bühne, die Kinder der Montessori Grundschule Hausen.

Ein freier Raum, kein Geländer, keine Linien auf dem Boden, keine sichtbaren Wände, die sie leiten könnten. Und sie beginnen ihre Tänze und Texte. Wie bewege ich mich im Raum? Wo bin ich? Die Verortung ist eine ganz große Herausforderung. Und dann auch noch Verortung zur Musik, sprich Tanz. Da sind zum Anfang vier Reihen, die sich unmerklich schnell aufgebaut haben. Für die Zuschauer ganz selbstverständlich. In Wirklichkeit aber steckt da eine Menge Arbeit dahinter, dass sich so viele Kinder in vier Reihen in einem Raum zur Zuschauerseite hin positionieren.  Und es beginnt eine Polonaise. Von außen sieht es ganz einleuchtend aus, wie das Führungskind den immer länger werdenden Zug über die Bühne führt und nach und nach die Reihen einsammelt. Das Kind  geht auf einer unsichtbaren Bahn. Es ist so, als ob es einen Labyrinthplan wie in Chartres im Kopf hätte. Das verlangt räumliche Abstraktion im Kopf. Auch die Gehgeschwindigkeit muss geplant sein. Läuft man vorne zu schnell, dann reißt das Menschenband, geht man zu langsam, dann stoßen die nachfolgenden Kinder auf.  All dies haben die Kinder in dieser Zeit zwischen Oktober 2016 und Juli 2017 erfahren und gelernt. Es sieht spielerisch aus und ist doch so komplex.
Und Tanz ist noch viel mehr. Es ist nicht nur die Verortung im Raum, sondern auch die Begegnung mit dem Gegenüber. Wie gehe ich mit dem Partner, der Partnerin, ja mit der ganzen Gruppe um?  Wann führe ich, wann folge ich, wann ist mein Part dominant, wann ist mein Part dienend? Es ist dieses ständige Wechselspiel, das eine große Aufmerksamkeit fordert. Zu jeder Sekunde kommt noch hinzu, dass zu den erarbeiteten Bewegungen die Abstimmung mit der Musik erfolgen sollte. Da sieht man dann auf den Lippen ein Eins, Zwei, Drei, Vier, und!
Schon das Erkennen in der Musik, hier ist ein Vorspiel, da geht das Thema A los, und hier kommt das Thema B, ist eine gewaltige Leistung. Es sind Kinder, die ja nicht unbedingt eine musikalische Schulung haben. Aber auch dieses wurde so im Nebengang bewältigt. Musikalische Form wird Raumform. Und Raumform wird variierte Bewegungsgestaltung auf verschiedenen Ebenen. Die Zeitdimension wird so in den Körper übertragen, wird dynamische Raumform. Gleichzeitig muss man immer als Bewegender aufpassen, dass man niemanden anrempelt, niemanden im Weg steht. Und wenn dann doch ein Kind plötzlich einen anderen Platz eingenommen hat, dann muss man darauf in Sekundenschnelle reagieren, ohne die Spielleitung zu kontaktieren. All das läuft in einem kleinen sieben- oder acht-jährigen Kinderkopf ab. Es ist Hochleistung pur.
Und man berührt sich auch. Wie fasst man sich an den Händen? Es gibt Führungsfiguren mit Körperkontakt. Dort wird auf ästhetische Art der soziale respektvolle Umgang miteinander gelernt. Es soll niemand verletzt werden, es soll an niemanden gezerrt, es soll niemand gestoßen, aber auch nicht zu schwach geführt werden. Da wird im Tanz eine große Balance der körperlichen Begegnung ausgelotet, die im Alltag so nicht möglich ist. Die Kinder erlernen aber auf diesem Weg Menschenkultur: sozial, ästhetisch, körperlich. Und damit lernen sie große Teile von sich selbst kennen. Das sind Prozesse, die im alltäglichen Unterrichtsgeschehen nicht unbedingt so leicht unterzubringen sind. Abgesehen von der kognitiven Leistung der Erinnerung, welche Bewegung  wann wo zu machen ist.
Hinzu kommt das kindliche Bedürfnis der ständigen Kommunikation auf der Bühne. Es fällt den Kindern sicher nicht leicht, dass sie sich jetzt genau auf das künstlerische Geschehen konzentrieren, und sich nicht mit der Partnerin nebenan sofort austauschen. Und doch haben sie es bei der Aufführung wunderbar geschafft. Es ist genau diese Kunst im Hier und Jetzt da zu sein. Eine Kunst, die gerade in der sich ständig zerstreuenden Gegenwart immer mehr geübt werden muss. Künstlerische Arbeit ist aber nicht Selbstzweck, sondern sie wirkt immer in die persönliche Entwicklung. Und so ist diese Erfahrung für die Kinder sicher sehr wertvoll.
In der letzten Phase haben sie gelernt, dass man sich entweder bewegt oder spricht. Und wenn man spricht, dann sollte man Richtung Publikum sprechen, und dann auch noch laut und deutlich, damit auch die hinteren Reihen etwas verstehen. Man muss warten, den Einsatz abpassen, den Impuls des Partners aufnehmen, dann spricht man seinen Satz mit der entsprechenden Betonung und man hat die richtige Sprechrichtung. Und im Kopf organisieren sich schon die nächsten Abläufe. Wohin müssen wir Abgehen, welches Requisit wird von wem aufgenommen und wo werden wir es hinbringen? Neu war für die Kinder in diesem Fall auch die Lichtregie, die sie zum ersten Mal erlebt haben. Das Auge musste sich auch hier neu an die Situation gewöhnen, genauso wie an die erstmalig präsentierten Hintergrundbilder, die die entsprechenden Atmosphären schufen.
Katharina Kluge und Hannes Michl haben in diesem Projekt eine unglaubliche Arbeit geleistet.  Das scheinbar Spielerische und das Unterhaltsame eines solchen Stückes mit Kindern transportieren höchst Anspruchsvolles mit sich: für die Kinder ermöglicht in solches Projekt unendliche Nuancen von Lernstufen in so vielen Facetten, die die grundsätzlichen Dinge des Lebens betreffen. Es geht um die soziale Kompetenz, es geht um das Durchhalten, die Freude am Erfolg und dort auch, dass jedes Kind mit seinem Leistungsvermögen seinen Platz findet.  Künstlerische Arbeit bedeutet gleichzeitig geistige Anstrengung, die man nicht sieht. Es sind hochkomplexe Prozesse, die durch die Tanzpädagogin und den Theaterpädagogen bei diesem Projekt angestoßen wurden. Das erfordert von ihrer Seite ein Können und Geschick, das man nicht hoch genug bewerten kann.  Da gilt die alte künstlerische Regel: alles was leicht aussieht ist schwer.  Sie haben Kinder mit auf diese Reise genommen, die sich nicht primär zum Singen, Schauspielern oder Tanzen angemeldet haben wie bei entsprechenden Workshops. Sondern es sind normale Kinder einer Grundschule, und genau diese Kinder haben sie mit ihrem pädagogischen Gespür zur Höchstform geführt. So wird ein höchst anspruchsvoller Schuh draus. In diesem Fall ein NeSCHUHah! Alles nur ein Spiel? Nein. Gerade durch den Kontakt mit solchen künstlerischen PädagogInnen wird das Spiel auf eine höhere Ebene gebracht, die den Kindern eine große Erfahrung ermöglicht. Da ist es natürlich gut, dass es solche Grundschulen gibt, wie die Montessori-Grundschule Hausen mit ihrer inspirierenden Schulleitung und den Lehrern, die solche Räume aufmachen. Möge es noch viele solche Räume geben.

 

Uli Führe, Juli 2017